Samstag, 24. Dezember 2011

Zweckentfremdung

Viktiorianischer Bottom-Up Kinderschuh, zweite Hälfte 19. Jhdt

In den Anfängen der Handharmonikaproduktion war es nicht möglich, benötigte Bestandteile, welche die Instrumentenbauer nicht selber herstellen konnten, einfach bei einem Lieferanten zu bestellen. Die Herstellung auf Wunsch war mit enormen Kostenfolgen verbunden, die Amortisation unsicher. Sie zeichneten sich daher durch grosse Fantasie und Improvisationsgabe aus, und entfremdeten Gegenstände des Alltags für ihre Zwecke. Hier ein Beispiel, wie  ursprünglich für Schuhe verwendete Porzellanknöpfe im Handharmonikabau einer neuen Bestimmung zugeführt wurden.

Hiermit verabschiede ich mich für dieses Jahr von den Leserinnen und Lesern dieses Blogs. Ich danke Ihnen für ihr Interesse und wünsche Ihnen schöne Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr.

Z Jackä Tönel und Josef Ablondi


Anton Betschart (Jaken Tönel, 20.4.1925 - 20.7.1986) und Josef Ablondi (Blundi, 13.3.1914 - 4.1.1986).  Ausschnitt aus der Sendung Diräkt us Muotathal, SF DRS im Jahr 1985

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Eine Riggisberger von Gottfried Bärtschi

Das ursprüngliche, einreihige Langnauerli war zwar ein feines Instrument für die Hausmusik, konnte jedoch die Musikanten, auf Grund der Beschränkung auf eine Tonart bald nicht mehr befriedigen. Die Herrmanns in Langnau begannen daher das Tonspektrum mit zusätzlichen Tonarten im Quintenabstand zu erweitern und es entstanden zwei-, drei- und vierreihige Instrumente. Verschiedene Fabrikanten stellten von ca. 1890 bis 1930 derartige Instrumente her, die als Übergangstypen zwischen dem Langnauerli und dem Schwyzerörgeli einzuordnen sind. Auch die ersten Handharmonikas von Alois Eichhorn entsprechen noch diesem Bautyp.

Die Instrumente von Gottfried Bärtschi (geboren 19. März 1858 in Sumiswald, gestorben am 4. April 1924 in Riggisberg) heben sich auf Grund ihrer hochwertigen Verarbeitung und ihrem feinen Klang von den anderen Instrumenten ab.
"Gottfried Bärtschi stellt alle Teile seiner "Riggisberger" selber her, wobei er von seiner Frau und später von seinem Sohn Friedrich unterstützt wird." Ernst Roth: Schwyzerörgeli. Altdorf 2006


Eine Riggisberger von vorne. Links Melodieseite mit zwei diatonischen Reihen zu je zehn Tönen: äussere Reihe A-Dur, innere Reihe D-Dur. Typisch für die Instrumente dieser Gattung ist das stufenförmige Griffbrett. Rechts Bassseite mit zwei diatonischen Grundbässen (A-E und D-A) und zwei diatonischen Begleitakkorden (A/ E-Dur und D/A-Dur). 
Blechschild auf der Bassseite oben
GOTTFR. BÄRTSCHI
HANDHARMOINIKA-
FABRIKANT
RIGGISBERG
(SCHWEIZ)
Melodieseite. Sorgfältig gearbeitete und gebeizte Diskantverdecke (Schalldeckel), die von der Gehäuse-Innenseite her mit Schrauben fixiert sind.

Der Lederdäumling ist mittels einer  Messingplatte montiert. Diese ist mit einer Abstützfläche für den Daumen versehen um das Diskantverdeck zu schonen.  
Bassseite mit textilem Bassriemen.

Griffbrett der Basseite. Schlitzförmige Öffnungen zwischen Griffbrett und Gehäusedeckel für den Tonaustritt.

 Gedrechselte Bass-Stöpsel aus Bein.

Bassseite von hinten. Oben sieht man den Luftknopf , darunter die zwei Lufteinlasslöcher.  

Balgrahmen, Ecke aus geprägtem Metallblech, Aufschrift: FABRIK-MARKE, APOLLO.

Balg mit acht Falten. Balgpapier beige mit grünem Traubendekor, Balgecken aus rot gefärbtem Leder, Kantenschutz violett.

Anordnung der Stimmen auf der Melodieseite. Das Instrument ist zweichörig, die Stimmen sind mit "1" für die A-Dur Reihe und mit "2" für die D-Dur-Reihe beschriftet. Das Platzproblem für die Stimmen hat Bärtschi mit dem Einbau von Stimmstöcken für den zweiten Chor gelöst. Die Stimmstöcke sind fest montiert und nur einseitig mit Stimmen bestückt.

Konstruktion der Melodieseite.

Konstruktion der Melodieseite. Die senkrecht stehende Stimmstöcke sind nur einseitig mit Stimmen bestückt.

Präzise und sauber verarbeitete Holzarbeit für die Konstruktion der Luftkanäle und Stimmenlager.

Von Bärtschi handgefertigte Stimmen. Die Stimmplatten sind aus Messing gefertigt, die Stimmzungen aus Stahl sind zweifach aufgenietet. Die Stimmen sind nicht gestemmt und mit Stahlstiften fixiert.
Luftklappen der inneren D-Dur-Reihe nach Entfernung des vorderen Diskantverdecks.

Die geöffnete Luftklappe gibt zwei Lufteinlasslöcher für die beiden Chöre frei.

Die Enden der Achsen der Klappenmechanik ragen leicht aus dem Griffbrett heraus.

Griffbrett nach Entfernung der Klappenmechanik der inneren Reihe (unten). Die Stufenkonstruktion des Griffbretts ist eine Folge völlig voneinander unabhängigen Klappenmechaniken für die innere und äussere Tonreihe. 

Klappenmechanik der äusseren Reihe. Oben Lufteinlasslöcher der  inneren Reihe. Man beachte die aufwändig gearbeitete Form der Klappenhebel.

Klappenmechanik der äusseren Reihe mit angehobener Klappe.

Konstruktion der  Klappenmechanik der inneren Reihe mit sichtbarer Montage der Rückstellfedern

Unterseite der Klappenmechanik der inneren Reihe

Anordnung der Stimmen auf der Basseite. Links zwei Stimmplatten für den Dur-Begleitakkord (Dreiklang), rechts die Stimmen für den zweichörigen Grundbass. Das viereckige Loch links von den Begleitakkord-Platten ist der Eingang zum Kanal der Luftklappe. Im Stempel oben rechts ist mit Tinte das Baujahr dieses Instruments mit 1906 angegeben. Die Bedeutung der römischen Ziffer IX ist nicht eindeutig zu interpretieren: Ist es das neunte fertiggestellte Instrument im Jahr 1906 oder handelt es sich allenfalls um eine Monatsangabe (September)?

Stimmenlager und Konstruktion der Luftkanäle auf der Bassseite.
Zwei Tonbeispiele auf diesem Instrument sind zu hören auf meinem Youtube-Kanal: Im Gallopp und Aemmitaler-Mazurka.